Teilhabe im Digitalen – Kann Technik soziale Infrastrukturen stützen?

Teilhabe im Digitalen – Kann Technik soziale Infrastrukturen stützen?

Auf dem 2. Zukunftskongress Soziale Infrastrukturen am 06.06.2018 im dbb forum in Berlin befasste sich das Forum II mit dem Thema „Digitalisierung und soziale Infrastrukturen.“ Die Keynote hielt Projektleiter Thomas Nerlinger.

Hier eine Zusammenfassung des Forums II durch den Veranstalter Behörden Spiegel.

Referenten des Forums II: Hannes Jähnert, Dr. Konstanze Arp, Moderator Patrick Ney, Anna Schlomann, Thomas Nerlinger (von links), Foto: Behörden Spiegel

Digitale Plattformen und Medien können Menschen zusammenbringen, Austausch befördern, Zugänge verschaffen, kurz: Barrieren abbauen helfen. Im besten Fall. Häufig schaffen sie aber zusätzliche Barrieren für diejenigen, die wenig Berührungspunkte mit der digitalen Welt haben. Die Frage ist, wie die Technik gestaltet sein muss, um Teilhabe zu ermöglichen.

“In digitalen Medien steckt ein gigantisches Potenzial für Menschen mit Beeinträchtigung jeder Art”, sagte Dr. Konstanze Arp, Geschäftsführerin des NRW-Forschungskollegs GROW (Gerontological Research On Well-Being) an der Universität Köln. Um dieses Potenzial zu heben, fehle es aber an systematischem Wissen darüber, wie bestimmte Gruppen neue Technologien wahrnehmen und langfristig nutzen. Einen Beitrag zur Schließung der Wissenslücke soll ein Forschungsprojekt leisten, das die wissenschaftliche Mitarbeiterin bei GROW, Anna Schlomann, vorstellte.

Über ein Jahr hat das Forschungsteam ältere Menschen bei der Nutzung von Fitnesstrackern begleitet. Obwohl die Probanden überdurchschnittlich technikaffin gewesen seien, hätten die meisten sich auf die einfachsten Hauptfunktionen, Uhr und Schrittzähler, beschränkt. Eine Kopplung mit dem Smartphone, die langfristige Analysen der Fitness erlaubt hätte, sei kaum ausprobiert worden. Außerdem hätten viele die voreingestellten Sollwerte zur empfohlenen täglichen Schrittanzahl als bevormundend empfunden. “Die Möglichkeiten zur individuellen Anpassung haben aber die wenigsten genutzt”, so Schlomann. “Für einige stellte die Technik auch nach einem Jahr noch eine Hürde dar.” Ein ernüchterndes Resümee, wenn man bedenkt, dass besonders ältere Menschen von einer Sensibilisierung für körperliche Aktivität profitieren würden.

“Leider setzt die Technik zumeist voraus, dass der Mensch sich ihr anpasst.” So brachte Thomas Nerlinger das Problem auf den Punkt. Als Leiter des Modellprojekts Dorfgemeinschaft 2.0 unter Trägerschaft der Gesundheitsregion EUREGIO e. V. versucht er, dieses Missverhältnis auf den Kopf zu stellen. Die digitale Plattform für den Raum Grafschaft Bentheim/südliches Emsland soll dem Menschen folgen, indem sie ländliche Gemeinschaftsstrukturen nicht technisch neu aufsetzt, sondern stützt und ergänzt. Die Lebensbereiche Mobilität, Wohnen, Versorgung und Gesundheit werden in einem virtuellen Dorfgemeinschaftszentrum abgebildet. Dort sollen Dienste, seien es ÖPNV-Apps und Bürgerbus oder Dorfläden und Lieferservices, gebündelt wie auf einem Marktplatz auftreten. Die Dorfgemeinschaft 2.0 beschränkt sich nicht auf den digitalen Raum, sondern ist an die “reale” Dorfgemeinschaft, also die Anbieter und Infrastrukturen vor Ort, rückgekoppelt. Aufgesetzt wird das Angebot jeweils eigenständig durch die jeweilige Gemeinde. “Ob das vom Rathaus direkt übernommen wird, durch eine GmbH der öffentlichen Hand oder auch durch ein genossenschaftliches Modell, ist den Teilnehmern selbst überlassen”, erklärt Nerlinger. Offen sei das Projekt prinzipiell auch für Vereine, Privatunternehmen oder andere Einrichtungen, die Gemeinschaftsstrukturen bilden und stärken.

Programm 2. Zukunftskongress Soziale Infrastrukturen

Quelle: Der Behördenspiegel, Ausgabe Juli 2018, Seite 19.

Dorfgemeinschaft 2.0 ist Good-Practice-Beispiel in Studie der Bertelsmann Stiftung

Dorfgemeinschaft 2.0 ist Good-Practice-Beispiel in Studie der Bertelsmann Stiftung

Anlässlich der Verleihung des Reinhard Mohn Preises 2017 an den ehemaligen estnischen Staatspräsidenten Toomas Hendrik Ilves zum zukunftsweisenden Thema „Smart Country – Vernetzt. Intelligent. Digital.“ unterstrich Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, in ihrer Rede: „Deutschland muss für die Gestaltung der digitalen Transformation mehr tun. Das ist wichtig für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für die Menschen in unserem Land. Dafür braucht es vor allem Mut, Kreativität und Entschlossenheit.“

Die Studie der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel „Digitalisierung für mehr Optionen und Teilhabe im Alter“ hat zum Ziel, die Chancen der Digitalisierung für die Teilhabe älterer Menschen zu skizzieren und zu diskutieren. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie kann Digitalisierung so gestaltet und nutzbar gemacht werden, dass konkrete Beiträge für mehr Teilhabe im Alter entstehen? Ausgehend von den Wünschen und Herausforderungen älterer Menschen wird anhand von Good-Practice-Beispielen aufgezeigt, dass die Digitalisierung eine Fülle an Optionen bereit hält, mit denen Menschen unterstützt werden ihr Leben im Alter gestalten können.

Ältere Menschen sind offen gegenüber Digitalisierung; sie sind neugierig und wollen zu aktiven und kompetenten Akteuren der digitalen Gesellschaft werden. Die Gestaltung der Digitalisierung muss diese Neugier fördern. Sie muss souveräne digitale Akteure hervorbringen, die kompetent die Vielfalt digitaler Technologien nutzen, um so lange wie möglich selbst bestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Das Projekt Dorfgemeinschaft 2.0 wird als eines von sechs Good-Practice-Beispielen dargestellt (ab Seite 24 der Studie). Alle Projekte stellen die Teilhabe und Selbstständigkeit älterer Menschen unter Einsatz digitaler und assistiver Technologien in den Mittelpunkt.

Identifizierung charakterisierender Themenfelder (ab Seite 10 der Studie) 

Um der Komplexität des Themas „Digitale Teilhabe im Alter“ gerecht zu werden, luden die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Innovation und Technik (iit) in der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH im November 2016 zunächst zu einem Experten-Workshop nach Berlin ein, um charakterisierende Themenfelder zu identifizieren und darauf aufbauend eine geeignete Themenmatrix zu entwickeln. Wesentliche Grundlage der Diskussion war dabei der 2002 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der VDI/VDE-IT entwickelte Forschungsschwerpunkt „Ambient Assisted Living – AAL“ (Deutsch: Altersgerechte Assistenzsysteme). Der dabei verfolgte Ansatz hatte zum Ziel, mithilfe eines Aktivitätennetzwerks differenziert darzustellen, in welchen Lebensaspekten Assistenztechnologien besonders relevant werden.

Hierbei wurde zunächst zwischen häuslichen Aktivitäten und Aktivitäten im Umfeld unterschieden. Zu den häuslichen Aktivitäten zählten bspw. Pflege- und Versorgungsaktivitäten und zu den Aktivitäten im Umfeld bspw. Hobbies und Mobilität. Darauf aufbauend wurde 2012 der Ansatz in Ausgangslage einer Studie zu ökonomischen Potenzialen altersgerechter Assistenzsysteme erweitert (Fachinger et al. 2012), die vier Lebensbereiche definierte, in denen Assistenztechnologien bereits zum Einsatz kommen oder entwickelt werden: Gesundheit und Pflege, Sicherheit und Privatsphäre, Haushalt und Versorgung sowie Kommunikation und soziales Umfeld.

Teilnehmer des Experten-Workshops am 21. November 2016 in Berlin

Name

Organisation

Prof. Dr. phil. Manfred Hülsken-Giesler

Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Gemeindenahe Pflege

Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Langguth

Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, AAL-Netzwerk Saar

Prof. Dr. theol. Arne Manzeschke

Evangelische Hochschule Nürnberg, Ethik und Anthropologie

Thomas Nerlinger

Gesundheitsregion EUREGIO e. V.,
Forschungsprojekt DORF 2.0

Rainer Richter

VSWG Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V.

Ferdinand Schäffler

Evangelische Heimstiftung GmbH, Innovationszentrum

Prof. Dr. rer. nat. Wilhelm Stork

FZI Forschungszentrum Informatik, Ambient Assisted Living

Prof. Dipl.-Inf. Birgit Wilkes

Technische Hochschule Wildau, Gebäude-Telematik

Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten diskutierten beim Workshop die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Innovation und Technik mit acht Expertinnen und Experten (siehe oben) relevante Themenfelder für die vorliegende Studie. Hierbei ging es insbesondere darum, die Analyse thematisch auf Aspekte der Optionen und Teilhabe einzugrenzen und ein Feedback der Experten zu erhalten, welche Bedarfe sie sehen, welche Aspekte unbedingt aufgenommen werden müssen und welche vernachlässigbar und dementsprechend wegzulassen sind. Die Experten wurden aufgrund ihrer Expertisen den entsprechenden Themen zugeordnet. Die Diskussionen im Rahmen des Workshops bestätigten die Relevanz der bestehenden Ansätze. Hierzu zählt die Differenzierung von Domänen wie Gesundheit oder Wohnen, die das weite Spektrum von Assistenztechnologien greifbar machen. In Bezug auf das Thema Teilhabe wurden drei Themenfelder als besonders relevant herausgestellt:

  • Gesundes Leben,
  • Selbstbestimmtes Wohnen,
  • Soziale Einbindung im Quartier.

Alle drei Themen bündeln eine Vielzahl der Wünsche älterer Menschen und sind gleichzeitig Voraussetzungen und Konsequenzen sozialer Teilhabe. Sie werden somit im Folgenden als Fokusfelder dieser Studie geführt. Im Gegensatz zu bestehenden Ansätzen zeigten die Workshop-Diskussionen, dass Themen wie Sicherheit oder Kommunikation keine gesonderten Lebensbereiche in Bezug auf Digitalisierung darstellen, sondern in jedem Fokusfeld relevant sind. Diese eher technisch induzierten Themen bündelten die Teilnehmer zu Querschnittsthemen:

  • Technikkompetenz digitaler Akteure,
  • Digitale Vernetzung und Kommunikation,
  • Innovationen und Zukunftstechnologien.

 

Quelle: Digitalisierung für mehr Optionen und Teilhabe im Alter, BERTELSMANN STIFTUNG (HRSG.), Titelbild Studie