Die Dorfgemeinschaft der Zukunft

Dorfgemeinschaft 2.0 heißt ein engagiertes Projekt im westlichen Niedersachsen. Das Ziel: Senioren in dünn besiedelten Gebieten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, auch wenn Angehörige nicht immer in der Nähe wohnen.

Technische Hilfsmittel erleichtern das Leben in den eigenen vier Wänden, ein Lieferdienst bringt die Einkäufe bis zur Haustür und eine rollende Praxis hilft bei Krankheit: Wie die Digitalisierung das Leben in einer älterwerdenden Gesellschaft angenehmer machen kann, erprobt das Projekt „Dorfgemeinschaft 2.0“ im westlichen Niedersachsen. Für die vier Lebensräume Wohnen, Versorgung, Mobilität sowie Gesundheit und Pflege sollen Konzepte entwickelt werden, die später auch auf andere Regionen übertragen werden können. Neben sieben Kommunen aus der Grafschaft Bentheim und dem südlichen Emsland nehmen auch private Partner teil. Träger ist der in Nordhorn ansässige Verein Gesundheitsregion EUREGIO. 

Die an die Niederlande grenzende Region ist nur dünn besiedelt. Schon jetzt gibt es nicht mehr genügend Ärzte, der Weg zum nächsten Supermarkt ist für viele Menschen weit. Prognosen zufolge wird 2030 über die Hälfte der Einwohner über 45 Jahre alt sein. Die großen Entfernungen werden für die älterwerdende Gesellschaft zur Herausforderung. Eine Befragung vor dem Start des Projekts ergab: Die meisten Menschen in der Region halten die Infrastruktur zwar für unzureichend, wollen aber dennoch solange wie möglich im eigenen Zuhause wohnen bleiben.

Für Thomas Nerlinger, Projektleiter und Initiator der „Dorfgemeinschaft 2.0“, war klar: „Die Digitalisierung kann helfen, Brücken zwischen weit entfernt liegenden Akteuren zu bauen.“ Auf die Idee kam der 48-Jährige, als sein Vater vor einigen Jahren plötzlich verstarb und seine über 30 Kilometer entfernt lebende Mutter plötzlich alleine war. „Die Herausforderung für uns Kinder besteht darin, meiner Mutter auch auf die Entfernung ein selbstbestimmtes Leben in ihrer Wohnung im ersten Obergeschoss zu ermöglichen und dabei ein gutes Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit zu haben“, sagt er. Videokonferenzen, gemeinsames Chatten oder Teilen von Fotos gehören heute selbstverständlich zum Familienalltag. „Was bei uns geht, muss auch bei anderen funktionieren“, dachte sich Nerlinger. 

 Schnell fand er Partner für seine Idee in der Region, darunter auch die Universität und die Hochschule Osnabrück. Für die wissenschaftliche Begleitung des Projekts stehen rund 5 Millionen Euro aus dem Wettbewerb „Innovationen für Kommunen und Regionen im demografischen Wandel“ des Bundesforschungsministeriums zur Verfügung. Noch bis Oktober 2020 läuft die insgesamt fünfjährige Förderung. In der Samtgemeinde Emlichheim, eine der sieben Kommunen, gab es schon vorher ein Mehrgenerationenhaus mit Pflegestützpunkt, Seniorenbegleitung, Computerkursen und zahlreichen weiteren Angeboten für die ältere Generation. Das Problem: Manche werden nur zögerlich genutzt. Viele Menschen trauen sich offenbar nicht oder wissen gar nicht davon. So entstand die Idee, im Rahmen der „Dorfgemeinschaft 2.0“ ältere Einwohner ab 65 Jahren, die noch keinen Pflegegrad haben, zu Hause zu besuchen. In persönlichen Gesprächen sollten ihre Bedürfnisse erfragt und passgenaue Angebote vorgestellt werden. Die Resonanz war größer als erwartet: Von 2.500 Einwohnern, die die Gemeinde anschrieb, wollten über 270 besucht werden. Weil nur 75 an dem zeitlich begrenzten Projekt teilnehmen können, wird nun gelost. 

Über 40 sogenannte „präventive Hausbesuche“ hat die eigens engagierte studierte Pflegekraft Annika Paul schon absolviert. Die 26-Jährige stammt aus der Region und führt die Gespräche, wenn es nötig ist, auch auf Plattdeutsch. Die meisten Teilnehmer sind erfreut – so wie die Frau, die Paul zum Abschluss des Treffens einen Kuss auf die Wange gab: „Sie war unheimlich dankbar, dass ihr jemand zugehört hatte.“ In einem Zeitraum von zehn Monaten besucht die Fachfrau jeden Teilnehmer vier Mal. Anhand eines Fragebogens sammelt sie im ersten Gespräch Informationen zu Wohnsituation, Mobilität, Gesundheit und Familie. Beim nächsten Mal macht sie konkrete Vorschläge, um möglichen Problemen rechtzeitig zu begegnen. Hat der Betreffende Schmerzen, zeigt sie Übungen, um die Beweglichkeit zu verbessern. Fällt das Einkaufen schwer, verweist sie auf die örtliche Initiative „Mobiler Einkaufswagen“. Will sich der Teilnehmer technisch weiterbilden, empfiehlt sie Computerkurse im Mehrgenerationenhaus. Bei Treffen drei und vier überprüft Paul, ob die Vorschläge geholfen haben oder ob nachgebessert werden muss. Die Hochschule Osnabrück untersucht unter anderem, ob die Besuche am Ende tatsächlich dazu führen, dass die Menschen länger im eigenen Zuhause wohnen können. 

Das auf drei Jahre angelegte Teilprojekt wird größtenteils aus Fördermitteln finanziert, zum Teil aber auch aus der Gemeindekasse. „Es ist uns wichtig, unseren Senioren eine höhere Lebensqualität zu ermöglichen“, sagt Emlichheims Samtgemeinden-Bürgermeisterin Daniela Kösters. Auf lange Sicht sieht sie allerdings die Krankenkassen in der Pflicht: „Wenn die Hausbesuche tatsächlich einen messbaren Effekt haben, dann plädiere ich dafür, sie zur Kassenleistung zu machen.“ Ergibt sich bei den Gesprächen, dass Interesse an technischen Hilfsmitteln besteht, verweist Annika Paul auf ein Angebot in der rund 30 Kilometer entfernten Kreisstadt Nordhorn. Ein privater Partner der „Dorfgemeinschaft 2.0“, das Kommunikationsunternehmen Eno telecom, hat dort in einem Elektromarkt einen „Smart Home Showroom“ aufgebaut. Neben intelligentem Kühlschrank und ferngesteuerten Heizkörpern ist für Senioren besonders das digitale Pflegebett interessant. Es ist ausgerüstet mit einer Sensormatte, die Puls und Atmung des Patienten misst, einem Notfalltaster, der schnell Hilfe alarmieren kann, und mit Bewegungsmeldern, die online ein Lebenszeichen an Angehörige übermitteln. Noch sind die Berührungsängste mit diesen Produkten groß, gibt Projektleiter Rainer Büter zu. Etwa drei bis vier Mal die Woche würden Kunden einen Beratungstermin vereinbaren. Rund ein Viertel von ihnen entscheide sich für den Kauf einzelner Produkte und wagt damit den Schritt in das digitale Zuhause. 

Neben „präventiven Hausbesuchen“ und „Smart Home“ laufen in der Grafschaft Bentheim fast 30 weitere Teilprojekte: In der Gemeinde Ohne ist ein neuer Dorfladen im Aufbau. Ein Bürgerbus mit ehrenamtlichen Fahrern ist dort bereits unterwegs. In Neuenhaus wurde im alten Bahnhof ein Café eröffnet, das als Begegnungsstätte dient. Eine mobile Gesundheitsversorgung für die Region ist in der Entwicklung. Damit ist die „Dorfgemeinschaft 2.0“ längst nicht mehr nur ein digitales Projekt. „Wir haben im Laufe des Prozesses gemerkt, dass die technische und die soziale Innovation eng miteinander verbunden sind“, sagt Thomas Nerlinger. 

Herzstück des Projekts wird aber dennoch ein digitales Element: Der „virtuelle Dorfmarktplatz“ soll im Laufe des Jahres starten – eine App, in der zum einen alle angebotenen Dienstleistungen abrufbar sind und in der zum anderen Privatpersonen Mitfahrgelegenheiten oder andere Hilfeleistungen anbieten können. Aus Nerlingers Sicht ist die Übertragung der Dorfgemeinschaft der Zukunft auf andere Regionen ohne Weiteres möglich. „Letztlich hängt alles davon ab, ob die Bürger die Dienste nachfragen und die Finanzierung gesichert ist.“ Für weitere Details bleibt die wissenschaftliche Auswertung des Projekts abzuwarten.

Quelle: KOMMUNAL, Ausgabe April 2019 Seite 25 + Seite 26
Text / Michael Althaus
https://kommunal.de/dorfgemeinschaft-zukunft

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