Digital Brücken bauen – bis zu jeder Milchkanne

Digital Brücken bauen – bis zu jeder Milchkanne

Interview

Das Forschungsprojekt „Dorfgemeinschaft 2.0“ hilft Gemeinden beim demografischen Wandel. Ihr Leiter Thomas Nerlinger über digitale Brücken in die Zukunft.

Herr Nerlinger, was ist der Kern Ihrer Mammut-Aufgabe?

Thomas Nerlinger: Moderne Technologien unterstützen unsere Lebenswelt sinnvoll. Deshalb bringen wir die Technik zum Menschen – er steht bei uns im Mittelpunkt.

Demographische Wandlungsprozesse gefährden zunehmend Versorgungsgefüge – familiär, institutionell und lokal. Was gilt es zu bedenken? 

Wir sollten die Chancen der Digitalisierung für die Bewältigung der Probleme richtig nutzen. Kommunen stehen unter erhöhtem Wettbewerbsdruck. Das Ungleichgewicht wächst: Dörfer verlieren, Metropolen gewinnen, unter anderem mit attraktiven Unternehmen und freien Arbeitsplätzen. Gemeinden müssen daher schneller auf Marktveränderungen und Bürgerwünsche reagieren – und das bei finanziell begrenztem Spielraum. 

Was ist konkret zu tun? 

Die Digitalisierung baut Brücken zwischen Akteuren, die weit voneinander entfernt sind. Sie hilft, den Anschluss an die rasant wachsende Globalisierung zu behalten. Voraussetzung sind allerdings bezahlbare Zugänge, ein schnelles Glasfaser-Internet und flächendeckender Mobilfunk – idealerweise bis zu jeder Milchkanne. Gerade hier sehe ich die ländlichen Regionen stark benachteiligt. Da ist die Politik gefragt. 

Schildern Sie uns eine konkrete Erkenntnis Ihrer bisherigen Arbeit…

Viele wollen solange wie möglich in der eigenen Wohnung leben. Das ergab in der ersten Projektphase unsere 50-Plus-Befragung in der Grafschaft Bentheim. Gerade auf dem Land gibt es traditionell gewachsene Strukturen, der Austausch über Leid und Freude findet im Vereins- und Kirchenleben sowie im Ehrenamt statt – durch Digitalisierungsmöglichkeiten wird all das ergänzt. Sie helfen ein selbstbestimmtes Leben sowohl in Gemeinschaft und in den eigenen vier Wänden zu führen – bis ins hohe Alter. 

Alter & Digitales – passt das zusammen? 

Technik ist kein Hexenwerk. Ältere Menschen können ihre Hemmschwelle durchs Ausprobieren überwinden. Gerade beim barrierefreien Wohnen helfen uns moderne Technologien. Ein guter Einstieg in die digital assistierte Welt ist beispielsweise ein Hausnotrufsystem – das gibt zudem ein sicheres Gefühl. Auch Tablets bedeuten soziale Teilhabe vom Wohnzimmersessel aus. Sie bieten den Zugang zu Information jeder Art. Entscheidend hierbei: Es muss individuell passen und finanzierbar sein. 

Welchen persönlichen Zugang haben Sie zu diesem komplexen Projekt, was motiviert Sie?

Als mein Vater verstarb, war meine Mutter plötzlich allein. Wegziehen – für sie keine Option. Wie ermöglichen wir ihr aber ein selbstbestimmtes Leben, ohne vor Ort zu wohnen? Tablet und Smartphone helfen uns dabei. Zu unserer Überraschung hat meine Mutter sich schnell in der digitalen Welt zurechtgefunden. Chatten, Videokonferenzen oder Fotos teilen – das gehört selbstverständlich zur Kommunikation und zum Familienleben. Sie ist über vieles schneller informiert als ich. Zu ihrem 82. Geburtstag hat sie ein Sprach-Assistenz-System geschenkt bekommen. Sie startet erste Versuche im „Smart Home“. 

Wie entwickelt sich die „Dorfgemeinschaft 2.0“?

Dynamisch. Durch Vorträge und Konferenzen fließen immer neue Ideen ein. Noch 2019 gehen wir mit unserem virtuellen Dorfmarktplatz in die Erprobungsphase. Auf einer IT-Plattform bieten wir dann interessierten Bürgern in unserer niedersächsischen Modellregion erste Servicedienste über Apps und kleinen Smartphone-Programmen, sogenannten Widgets, an. Darüber lassen sich freie Pflegeplätze buchen, Mobilitätsdienste organisieren, elektronische Gesundheitsakten führen, regionale Produkte aus dem Dorfladen bestellen oder allgemein Gesuche einstellen und Hilfen anbieten. Aus den Ergebnissen eines Workshops mit 40 Akteuren aus Bauwirtschaft und Planung sowie den Bürgern haben wir außerdem eine Broschüre für Kommunen mit konkreten Handlungsempfehlungen aus dem Bereich Wohnen erstellt. Darüber hinaus hat unser Verbundpartner ENO telecom in einem Nordhorner Elektrofachmarkt einen großen Smart-Home-Showroom eröffnet. Vor Ort kann sich jeder die neuen technischen Möglichkeiten erklären lassen. All das zeigt doch, dass sich die Wahrnehmung in den Kommunen bereits verändert hat. 

Was passiert nach dem Projekt? 

Unser Projekt endet im Oktober 2020. Nach Analyse der Forschungsergebnisse werden wir mit all unseren Partnern beraten, ob wir unseren virtuellen Dorfmarktplatz und die digitalen Servicedienste auch anderen Kommunen offerieren. Das hängt davon ab, ob die Bürger die Angebote nachfragen und die Finanzierung gesichert ist. In unserer Gesundheitsregion EUREGIO mit 160 Mitgliedern sind weit über 100 Kommunen grenzüberschreitend in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden zusammengeschlossen. Da gäbe es also viel Potenzial. Für Entscheidungen ist es jedoch zu früh. Zunächst gilt unser Fokus der Entwicklung, Erprobung und Evaluation in unserer Modellregion.  

Quelle: KOMMUNAL 05/2019 
 https://kommunal.de/bruecken-bauen-dorfgemeinschaft-20

Region muss Weg fortsetzen

Region muss Weg fortsetzen

Jahresveranstaltung der Dorfgemeinschaft 2.0 in der Stadt Lingen (Ems)

Lingen Der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Dr. Reiner Klingholz, hat die Kommunen dazu aufgefordert, das Potenzial der sogenannten Babyboomer zu nutzen, wenn diese in Rente gegangen sind. Klingholz sprach vor rund 60 Gästen auf der Jahrestagung des Projekts Dorfgemeinschaft 2.0 im IT-Zentrum in Lingen.

Die Tagung hatte den Schwerpunkt „Gesundheit und Pflege.“ In Deutschland werden die im Zeitraum von 1955 bis 1969 Geborenen von Statistikern als geburtenstarke Jahrgänge bezeichnet. 1964 auf dem Höhepunkt der Babyboomer-Jahre wurden laut Klingholz in Deutschland  rund 1,4 Millionen Kinder geboren, heute sind es nur noch knapp 800.000, wobei die Geburtenrate in letzter Zeit wieder ansteigt. „Die Generation der Babyboomer ist relativ gut qualifiziert und häufig in Leitungsfunktionen tätig“, verwies der Direktor darauf, dass diese Generation als Leistungsträger der Gesellschaft bezeichnet werden könne.  

Wenn die Babyboomergeneration  in in den nächsten Jahren mit einer deutlich höheren Lebenserwartung in die Rente gehe, wolle sie sich weiter engagieren, stellte der Referent fest. Es sei im ureigensten Interesse der Kommunen, diese Personengruppe zum Beispiel durch Fortbildungen in deren zivilgesellschaftlichem Engagement zu unterstützen. „Diese Menschen wollen sich nicht den ganzen Tag auf dem Golfplatz aufhalten oder ständig auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs sein.“

Der Region Emsland/Grafschaft Bentheim bescheinigte er, sich den neuen demografischen Herausforderungen zu stellen. Mit Blick auf die günstigere Bevölkerungsstruktur im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands hätten das Emsland und die Grafschaft bessere Voraussetzungen, um mit den Herausforderungen, die mit der Alterung der Gesellschaft verbunden seien, fertig zu werden. „Die Emsländer leiden nicht unter einem zu geringen Selbstbewusstsein“, machte der Referent eine Anpackermentalität aus, die bereits auf unterer Ebene wie zum Beispiel in den Nachbarschaften zu beobachten sei. In der hiesigen Region werde der Subsidiariätsgedanke mit Leben gefüllt, stellte er fest. Entscheidend sei, genügend Fachkräfte in die Region zu holen, um deren Wirtschaftskraft zu erhalten.

 Die größten Konkurrenten seien dabei die Städte, zumal diese auch für junge Familien an Attraktivität gewonnen hätten. „Leipzig ist die am stärksten wachsende Stadt in Deutschland“, sagte Klingholz. Die ländlichen Gebiete vor allem in Ostdeutschland, aber auch im Osten Niedersachsens, würden hingegen regelrecht ausbluten. Er verwies darauf, dass die Geburtenrate in den neuen Bundesländern in den 90er-Jahren auf 0,8 pro Frau zurückgegangen sei, inzwischen mit 1,6 Kindern pro Frau (Stand 2015) aber auf Westniveau sei.

Thomas Nerlinger, Leiter des Forschungsprojekts Dorfgemeinschaft 2.0, das im südlichen Emsland und in der Grafschaft Bentheim die generationenübergreifende Dorfgemeinschaft für die älter werdenden Menschen stärken will, erklärte: „Das Alter in unserem ländlichen Raum hat hier eine gemeinsame Zukunft. Viele packen in guter Tradition für eine gemeinsame Zukunft tatkräftig an – Jung und Alt. Darauf können wir alle stolz sein.“  Nerlinger zufolge will das Projekt die bestehenden traditionellen Strukturen und Gemeinschaften unter anderem in Kirchengemeinden, Vereinen, Nachbarschaften und Unternehmen einbinden und gemeinsam weiterentwickeln – dort, wo die Menschen zu Hause sind, sich wohl fühlen und freundschaftlich zusammenleben. „Digitalisierung sollte uns keine Angst machen, sondern eine Hilfestellung im Alltag sein.“ 

Britta Blotenberg und Anna Haupeltshofer stellten die Ergebnisse der Bedarfsanalyse „Gesundheit, Prävention, Technik und Bildung“ vor. Haupeltshofer: „Wir haben festgestellt, dass die Nachbarschaften ein sozialer Anker sind. Die Älteren befürchten, dass sie bei wegbrechenden Nachbarschaften künftig allein gelassen werden.“ Beklagt würden zudem Defizite bei der Mobilität. Die Senioren wünschen sich nach ihren Worten vor allem Unterstützung bei der individuellen Handynutzung. Prof. Dr. Stefanie Seeling (Pflegewissenschaft am Campus Lingen) demonstrierte, auf welch vielfältige Weise sich das Smartphone nutzen lässt, um den Alltag von Senioren zu erleichtern.

Oberbürgermeister Dieter Krone hob hervor, dass jeder Mensch ein soziales Wesen sei. „Die Flasche Bier schmeckt in Gemeinschaft besser als auf dem Sofa.“ Aufgabe sei es, mithilfe der Digitalisierung die Voraussetzungen für einen Lebensabend in der Dorfgemeinschaft zu schaffen. Ausdrücklich dankte er Nerlinger für dessen Engagement. Dieser wiederum lobte die Mitarbeit von Kirsten Vogler, der Demografiebeauftragten der Stadt Lingen, bei dem Forschungsprojekt. Lingen hatte sich im Frühjahr 2018 dem Projekt angeschlossen.

Roland Simon, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Osnabrück, stellte das Projekt „Behandlung im voraus planen“ (BVP) vor, das derzeit im St. Johannesstift in Spelle in Kooperation mit der Hospizgruppe Spelle auf freiwilliger Basis modellhaft erprobt wird. BVP trete an die Stelle  von Patientenverfügungen, die häufig unpräzise gehalten seien, deshalb Interpretationsspielraum böten und immer wieder zu juristischen Auseinandersetzungen führten. BVP sei eine dynamische Form der Patientenverfügung, die bei Bedarf angepasst werden könne. Sie enthalte eine Notfallplanung, die vor Übertherapierung oder Untertherapierung am Lebensende bewahren solle.

Quelle: Ludger Jungeblut (Lingener Tagespost)

Fotograf: Franz Frieling

Stefanie Goedereis neu im Team der Gesundheitsregion EUREGIO

Stefanie Goedereis neu im Team der Gesundheitsregion EUREGIO

Seit dem 01.05.2019 verstärkt die gebürtige Bentheimerin Stefanie Goedereis, mittlerweile wohnhaft in Lingen, den Projektstab des Forschungsprojektes Dorfgemeinschaft 2.0 beim Verein Gesundheitsregion EUREGIO als wissenschaftliche Mitarbeiterin.

Nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Berufsausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin im Jahr 2011, arbeitet sie seit 8 Jahren im Bonifatius Hospital in Lingen auf einer peripheren Akutstation. Stefanie hat während ihrer beruflichen Praxis, ein Bachelorstudium der Pflegewissenschaft in Osnabrück absolviert und 2018 erfolgreich abgeschlossen. Durch ihr Studium konnte sie eine Zusatzqualifikation der Pflegeberaterin erlangen. In derZukunft möchte sie ihren Akademisierungsgrad erweitern und ein Masterstudium mit den Schwerpunkten der Versorgungsforschung und -gestaltung beginnen.

Stefanie hat sich außerdem ehrenamtlich für die „Stimme der Pflege“ eingesetzt und für die erste Kammerwahl der Pflegekammer Niedersachsen im Jahr 2018 kandidiert. Sie konnte mit einem sehr guten Ergebnis für die Region, als Ersatzmitglied der ersten Kammerversammlung abschneiden.

Stefanie wird aufgrund ihrer anstehenden Hochzeit am 10.05.2019 ihren Mädchennamen ablegen und den Nachnamen Göcken tragen.

Für die Gesundheitsregion EUREGIO und das Projekt Dorfgemeinschaft 2.0 bringt Stefanie fachliche Expertise aus den Bereichen Gesundheit, Versorgung und Pflege mit und möchte somit ihre Erfahrung und Wissen zum positiven Nutzen für die Region bündeln. Aufgrund ihres Geburtsortes Bad Bentheim, der danach abgeschlossenen Ausbildung in Nordhorn und ihrer langjährigen Berufserfahrung im Emsland, hat Stefanie einen großen persönlichen Bezug zu den Regionen und freut sich darauf in Hinblick auf das Dorfgemeinschaftsprojekt 2.0, das Leben im ländlichen Bereich zum positiven Nutzen mitverändern und mitgestalten zu können.

Wir freuen uns auf die Verstärkung im Team.