Region muss Weg fortsetzen

Jahresveranstaltung der Dorfgemeinschaft 2.0 in der Stadt Lingen (Ems)

Lingen Der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Dr. Reiner Klingholz, hat die Kommunen dazu aufgefordert, das Potenzial der sogenannten Babyboomer zu nutzen, wenn diese in Rente gegangen sind. Klingholz sprach vor rund 60 Gästen auf der Jahrestagung des Projekts Dorfgemeinschaft 2.0 im IT-Zentrum in Lingen.

Die Tagung hatte den Schwerpunkt „Gesundheit und Pflege.“ In Deutschland werden die im Zeitraum von 1955 bis 1969 Geborenen von Statistikern als geburtenstarke Jahrgänge bezeichnet. 1964 auf dem Höhepunkt der Babyboomer-Jahre wurden laut Klingholz in Deutschland  rund 1,4 Millionen Kinder geboren, heute sind es nur noch knapp 800.000, wobei die Geburtenrate in letzter Zeit wieder ansteigt. „Die Generation der Babyboomer ist relativ gut qualifiziert und häufig in Leitungsfunktionen tätig“, verwies der Direktor darauf, dass diese Generation als Leistungsträger der Gesellschaft bezeichnet werden könne.  

Wenn die Babyboomergeneration  in in den nächsten Jahren mit einer deutlich höheren Lebenserwartung in die Rente gehe, wolle sie sich weiter engagieren, stellte der Referent fest. Es sei im ureigensten Interesse der Kommunen, diese Personengruppe zum Beispiel durch Fortbildungen in deren zivilgesellschaftlichem Engagement zu unterstützen. „Diese Menschen wollen sich nicht den ganzen Tag auf dem Golfplatz aufhalten oder ständig auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs sein.“

Der Region Emsland/Grafschaft Bentheim bescheinigte er, sich den neuen demografischen Herausforderungen zu stellen. Mit Blick auf die günstigere Bevölkerungsstruktur im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands hätten das Emsland und die Grafschaft bessere Voraussetzungen, um mit den Herausforderungen, die mit der Alterung der Gesellschaft verbunden seien, fertig zu werden. „Die Emsländer leiden nicht unter einem zu geringen Selbstbewusstsein“, machte der Referent eine Anpackermentalität aus, die bereits auf unterer Ebene wie zum Beispiel in den Nachbarschaften zu beobachten sei. In der hiesigen Region werde der Subsidiariätsgedanke mit Leben gefüllt, stellte er fest. Entscheidend sei, genügend Fachkräfte in die Region zu holen, um deren Wirtschaftskraft zu erhalten.

 Die größten Konkurrenten seien dabei die Städte, zumal diese auch für junge Familien an Attraktivität gewonnen hätten. „Leipzig ist die am stärksten wachsende Stadt in Deutschland“, sagte Klingholz. Die ländlichen Gebiete vor allem in Ostdeutschland, aber auch im Osten Niedersachsens, würden hingegen regelrecht ausbluten. Er verwies darauf, dass die Geburtenrate in den neuen Bundesländern in den 90er-Jahren auf 0,8 pro Frau zurückgegangen sei, inzwischen mit 1,6 Kindern pro Frau (Stand 2015) aber auf Westniveau sei.

Thomas Nerlinger, Leiter des Forschungsprojekts Dorfgemeinschaft 2.0, das im südlichen Emsland und in der Grafschaft Bentheim die generationenübergreifende Dorfgemeinschaft für die älter werdenden Menschen stärken will, erklärte: „Das Alter in unserem ländlichen Raum hat hier eine gemeinsame Zukunft. Viele packen in guter Tradition für eine gemeinsame Zukunft tatkräftig an – Jung und Alt. Darauf können wir alle stolz sein.“  Nerlinger zufolge will das Projekt die bestehenden traditionellen Strukturen und Gemeinschaften unter anderem in Kirchengemeinden, Vereinen, Nachbarschaften und Unternehmen einbinden und gemeinsam weiterentwickeln – dort, wo die Menschen zu Hause sind, sich wohl fühlen und freundschaftlich zusammenleben. „Digitalisierung sollte uns keine Angst machen, sondern eine Hilfestellung im Alltag sein.“ 

Britta Blotenberg und Anna Haupeltshofer stellten die Ergebnisse der Bedarfsanalyse „Gesundheit, Prävention, Technik und Bildung“ vor. Haupeltshofer: „Wir haben festgestellt, dass die Nachbarschaften ein sozialer Anker sind. Die Älteren befürchten, dass sie bei wegbrechenden Nachbarschaften künftig allein gelassen werden.“ Beklagt würden zudem Defizite bei der Mobilität. Die Senioren wünschen sich nach ihren Worten vor allem Unterstützung bei der individuellen Handynutzung. Prof. Dr. Stefanie Seeling (Pflegewissenschaft am Campus Lingen) demonstrierte, auf welch vielfältige Weise sich das Smartphone nutzen lässt, um den Alltag von Senioren zu erleichtern.

Oberbürgermeister Dieter Krone hob hervor, dass jeder Mensch ein soziales Wesen sei. „Die Flasche Bier schmeckt in Gemeinschaft besser als auf dem Sofa.“ Aufgabe sei es, mithilfe der Digitalisierung die Voraussetzungen für einen Lebensabend in der Dorfgemeinschaft zu schaffen. Ausdrücklich dankte er Nerlinger für dessen Engagement. Dieser wiederum lobte die Mitarbeit von Kirsten Vogler, der Demografiebeauftragten der Stadt Lingen, bei dem Forschungsprojekt. Lingen hatte sich im Frühjahr 2018 dem Projekt angeschlossen.

Roland Simon, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Osnabrück, stellte das Projekt „Behandlung im voraus planen“ (BVP) vor, das derzeit im St. Johannesstift in Spelle in Kooperation mit der Hospizgruppe Spelle auf freiwilliger Basis modellhaft erprobt wird. BVP trete an die Stelle  von Patientenverfügungen, die häufig unpräzise gehalten seien, deshalb Interpretationsspielraum böten und immer wieder zu juristischen Auseinandersetzungen führten. BVP sei eine dynamische Form der Patientenverfügung, die bei Bedarf angepasst werden könne. Sie enthalte eine Notfallplanung, die vor Übertherapierung oder Untertherapierung am Lebensende bewahren solle.

Quelle: Ludger Jungeblut (Lingener Tagespost)

Fotograf: Franz Frieling

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